13.12.2013 · Bei der Bundestagswahl ging es nicht um das bedingungslose Grundeinkommen. Schade. Denn es ist weder „rechts“ noch „links“. Eine Besinnung auf seine Vordenker zeigt, warum es nützlich ist.
Für viele scheint das bedingungslose Grundeinkommen eine ganz nette, jedoch völlig verrückte Idee: Jeder soll, unabhängig von seinem Gehalt, ein Einkommen erhalten, das ihm als Bürger zusteht. Einfach so. Weil er ein Bürger ist. Bedingungslos. Das sei nicht zu finanzieren, sagen die einen; es sei ungerecht, sagen die anderen. Das mindere die Arbeitsmotivation, sagen die einen; es subventioniere die Löhne, sagen die anderen. Es sei Kapitalismus, schimpfen diese; es sei Sozialismus, fürchten jene.
Warum kam die Idee überhaupt auf? Der Sozialstaat bismarckscher Prägung funktioniert dauerhaft nur dann, wenn traditionelle Familienformen, eine geringere Lebenserwartung sowie das ununterbrochene Beschäftigungsverhältnis die Regel sind. Werden sie zur Ausnahme, werden Arbeit, Lebenspartner und Wohnsitz häufiger gewechselt, wechseln sich Ruhe- und Schaffensphasen unregelmäßig ab, schaffen immer mehr Maschinen materiellen Wohlstand, dann gilt es, nicht Beschäftigung zu sichern, sondern zu ermöglichen. Dann geht es nicht darum, Almosen à la Hartz IV zu verteilen, sondern Chancen zu eröffnen. Das tut ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Ein Stückchen Land hilft keinem weiter
Bei der Bundestagswahl vor wenigen Wochen ging es leider nicht um ein Grundeinkommen. Zwar forderten es die Piraten, auch setzten sich Grüne und Linke dafür ein, dass eine Enquete-Kommission im Bundestag unterschiedliche Modelle prüfen möge. Doch die übrigen Parteien waren mehr oder weniger dagegen – offiziell jedenfalls. Aber auch unter ihnen gibt es, parteiübergreifend, Befürworter: Dieter Althaus, Thüringens ehemaliger CDU-Ministerpräsident, Hans-Christian Ströbele von den Grünen, Linken-Chefin Katja Kipping oder Guido van den Berg, SPD-Mitglied im nordrhein-westfälischen Landtag; dazu Götz Werner, Gründer des Drogerieriesen dm, der Präsident des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts Thomas Straubhaar oder der Sozialpsychologe Harald Welzer. Für den Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman und die liberale Legende Lord Ralf Dahrendorf galt das gleiche. Das zeigt, dass eine Einordnung des Grundeinkommens nach „rechts“ oder „links“ nicht so ohne weiteres möglich ist.
Man kann noch weiter zurückgehen: Thomas Morus forderte im sechzehnten Jahrhundert zur Verbrechensbekämpfung anstelle der Todesstrafe eine Einkommensgarantie; Thomas Paine wollte im achtzehnten Jahrhundert jeden Bürger für seine naturrechtlichen Ansprüche mit einer Pauschalzahlung entschädigen; John Stuart Mill wollte im neunzehnten Jahrhundert jedem eine basale Grundversorgung zugestehen.
Versteht man das Grundeinkommen nicht als Sozialleistung, sondern als Grundrecht, dann sind vor allem Thomas Paines Gedanken aus seiner Schrift „Agrarische Gerechtigkeit“ (1796) aufschlussreich: Weil nicht jedem mit der Geburt ein Stück Land zur Verfügung gestellt werden könne, da dies durch das Privateigentum unmöglich geworden sei, müsse ein Grundeinkommen für diesen Verlust entschädigen – und zwar jeden, „ob arm oder reich“, weil „alle Personen darauf gleichermaßen ein Anrecht besitzen, ungeachtet ihres selbst erarbeiteten, ererbten oder anderweitig geschaffenen Vermögens“. Was zu Paines Zeiten galt, gilt heute, in einer arbeitsteiligen, globalisierten, hochtechnisierten Kapitalwirtschaft erst recht: Ein Stückchen Land hilft keinem weiter, weil wir die agrarische Selbstversorgerökonomie längst hinter uns gelassen haben. So gesehen, ist das Grundeinkommen ein Grundeigentum, um im einundzwanzigsten Jahrhundert sein Leben zu unternehmen.
Ohne Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang
Das Grundeinkommen ist jedenfalls kein sozialistisches Realexperiment und andererseits auch keine neoliberale Vorhölle auf Erden, sondern ein dritter Weg: Es ist sozialistischer als jeder Sozialismus, da es jedem Bürger einen Mindestbetrag unabhängig von seiner Leistung garantiert, ohne dabei auf die marktwirtschaftliche Wertschöpfung samt der ihr innewohnenden Kraft der Innovation und Rationalisierung zu verzichten. Damit ist das Grundeinkommen zugleich kapitalistischer als jeder Kapitalismus, da es jeden Bürger mit einer Konsumpauschale ausstattet, durch die sich der ökonomische Wettbewerb erst wirklich frei – weil sozial schonend – entfalten kann.
Der dritte Weg, den das Grundeinkommen andeutet, ist freilich nur dann ein Weg, wenn er nicht mit allerlei Zielen überhäuft wird. Wenn also nicht unzählige weitere Forderungen mit ihm verknüpft werden – von der Geldreform über die Eigentumsreform bis zur Schulreform. Das mögen alles ebenso wichtige Baustellen sein, nur sind es keine, die sich als Koppelprodukt mit dem Grundeinkommen lösen lassen. Sie werden durch ein Grundeinkommen anders lösbar. Überhäuft man das Grundeinkommen jedoch mit diesen Forderungen, verschüttet man sogleich den Weg, den es freilegt.
Das Grundeinkommen, von dem meistens die Rede ist, gab es so noch nie. Zwar gibt es unzählige Fälle mehr oder weniger gewichtiger grundeinkommensähnlicher Projekte rund um den Globus; doch keines davon weist die Elemente auf, die das „Netzwerk Grundeinkommen“ als konstitutiv für ein solches Einkommen erachtet: nämlich, dass es als individueller Rechtsanspruch, ohne Bedürftigkeitsprüfung, in existenzsichernder Höhe und ohne Arbeitszwang gewährt wird.
Demütigungsfrei leben
Das Grundeinkommen fordert schließlich einen Systemwechsel im Kopf. Es gelten andere Regeln, und diese sind ebenso schlüssig wie all die bisherige Rhetorik des Förderns und Forderns, des Sicherns von Arbeitsplätzen, des Anreizens der Arbeitslosen. Und sie gehen von Annahmen aus, die mit der Realität weit mehr übereinstimmen als die bekannten „schlüssigen“ Formeln.
Die „schlüssigen“ Formeln zur Arbeitslosenaktivierung stammen aus der Zeit des aufkommenden Industriekapitalismus, in welcher der Arbeit eine Disziplinierungsfunktion oblag, wie Harald Welzer in seinem Bestseller „Selbst Denken“ ausführt: Die Einführung von Arbeitshäusern als Zuchtanstalten und von Erziehungsheimen für deviante Jugendliche diente der Einübung von Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Ordnungsliebe – und sei mit der Geschichte des Kapitalismus untrennbar verwoben. Die Kontrolle über diejenigen, die am Erwerbssystem nicht teilnehmen, und die Restriktionen, welche die Ersatzleistungsbürokratie und ihre wilhelminische Sprache durchherrschen, gingen, so Welzer, unmittelbar auf diese Tradition zurück.
Mit dem Grundeinkommen ließe sich diese frühmoderne Altlast endlich beseitigen: Es läge nun grundsätzlich in der Hand jedes einzelnen zu entscheiden, wie er leben will, und zwar demütigungsfrei. Die aufgeblähte Verwaltungsbürokratie, die noch heute für den nötigen Drill der angeblichen Leistungsverweigerer sorgt, könnte ersatzlos gestrichen werden.
Wir brauchen mehr Muße
In jedem Fall würde das Grundeinkommen, so Welzer, einen anderen Umgang mit Zeit erlauben: „Gilt heute ausschließlich die Arbeitszeit als funktional sinnvoll verbrachte Zeit, würden in der nachhaltigen Moderne sowohl die mit Eigenarbeit verbrachte Zeiten als auch die des Nichtstuns gleich hoch bewertet werden können, da die Zeithoheit mehr auf die einzelne Person und ihre Bedürfnisse und Präferenzen verlagert würde.“ Durch andere Kombinatoriken ergäben sich ganz neue Mischungsverhältnisse von Arbeits- und Freizeit; tendenziell würde diese Trennung sogar verschwinden können. Zeit könnte in viel höherem Maße als heute zur eigenen Zeit werden, so Welzer. Glaubt man dem Schweizer Philosophen Stefan Brotbeck, ist das dringend nötig: „Wir brauchen mehr Muße, um nicht zu verblöden.“
So, wie die Einführung des Grundeinkommens eine mögliche Revolution ist, so ist das Grundeinkommen selbst eine Möglichkeitenrevolution. Denn es maximiert die Entfaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen. Es will zwar den ganzen Menschen, aber es will nirgends hin mit ihm. Das Grundeinkommen überlässt jedem seine individuelle Planwirtschaft und uns allen die soziale Marktwirtschaft.
Das Ausland ist da schon weiter: In der Schweiz beispielsweise sind mehr als 100.000 Unterschriften für eine Volksinitiative zusammengekommen, die Anfang Oktober in der Berner Bundeskanzlei eingereicht wurden. In den nächsten Jahren wird es dort also eine Volksabstimmung zum Grundeinkommen geben.
Zum Grundeinkommen gehört das Offene: Dass es „aus der Logik seiner eigenen Struktur heraus auf eine freiheitliche Frage- und Diskurshaltung verweist“, darin sieht der Bonner Philosoph Martin Booms gerade das Besondere der Idee. „Stärke und Chance des Grundeinkommens als Idee liegen in dem Potential, über sich selbst als Konzept hinauszuweisen.“ Ob das Grundeinkommen nun kommt oder nicht, seine Diskussion führt dazu, dass wir uns über Arbeit und Freizeit, Leistung und Gerechtigkeit neu verständigen – und uns von frühmodernen Altlasten befreien können. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bedingungsloses-grundeinkommen-die-revolution-der-moeglichkeiten-12709578.html